Solidarität mit der Besetzungs-Aktion der Wall Street / New York / Besetzung begann am 17. September 2011 und dauert an
AND AND AND ist eine Künstlerinitiative, die den Zeitraum bis zur dOCUMENTA (13) im Jahr 2012 nutzen wird, um gemeinsam mit anderen KünstlerInnen und Gruppen aus der ganzen Welt die Rolle von Kunst und Kultur und der adressierten Öffentlichkeiten in der heutigen Zeit zur Diskussion zu stellen. Die so entstehende Serie künstlerischer Interventionen und Ereignisse ist Teil der dOCUMENTA (13). Sie leistet eine Bestandsaufnahme unterschiedlichster zeitgenössischer Positionen und bietet verschiedene Anknüpfungspunkte für eine Auseinandersetzung.
Aus Solidarität mit der Besetzungs-Aktion der Wall Street kehrt AND AND AND für ihr zehntes Event in die USA zurück.
Im Rahmen ihrer Bestrebungen, die Kommunikationsweise des Pressebüros der dOCUMENTA (13) zu hinterfragen und zu variieren, hat AND AND AND uns gebeten, den unten stehenden Brief an die Generalversammlung und Bezugsgruppen von Occupy Wall Street zu versenden.
Datum: Die Besetzung begann am 17. September 2011 und dauert an.
Land: USA
Stadt: New York
Ort: 40° 42'34" N, 74° 00'41" W
Adresse: Liberty Plaza (Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte projects@andandand.org)
dOCUMENTA (13) ist nicht verantwortlich für die Faktizität, die Künstler und Kunstwerke beanspruchen, die sie aus- und darstellt.
www.nycga.cc
www.documenta.de
www.andandand.org
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An die Generalversammlung und Bezugsgruppen von Occupy Wall Street,
Vor vierzehn Monaten besuchte eine Gruppe aus der New Yorker Beaver Street, die nur wenige Häuserblöcke südlich Eurer Besetzungs-Aktion verläuft, das Amerikanische Sozialforum in Detroit. Sie war auf der Suche nach Anregungen für neue Formen von Kultur. Diese Reise zu einem Knotenpunkt der heutigen sozialen Bewegungen war nicht nur symbolischer Natur.
Die Stadt Detroit ist so etwas wie der Inbegriff von Apokalypse und der Verlassenheit, die jeden erwartet, der glaubt, dass sowohl der Kapitalismus als auch unser Planet diese Krise überleben könnten. Die Frage, die unsere Reise beherrschte, war: Wo und wie kann sich die Kunst in gesellschaftlichen Bewegungen verorten?
Im 2011 hat ein neues Zeitalter begonnen, und wir haben versucht, uns einen Begriff davon zu machen. Wer geglaubt hatte, dass Veränderungen nur von außen kommen würden, erlebte, dass die Menschen im Innern der Maschine zum Aufstand bereit sind. Wie sonst lässt sich ein Phänomen wie Wikileaks verstehen? Hier haben Menschen ihr Leben riskiert, um aufzudecken, dass die Systeme, in denen wir leben, auf vielen Ebenen korrupt sind. Danach waren die Revolutionen in Tunesien und Ägypten ein Weckruf für den Eintritt in eine neue Epoche. Diejenigen, die sich den Befreiungskämpfen gegen eine globale Mafia anschließen, die alles – von unseren Wohnungen bis zum Weizen in unserem Brot – privatisieren und zu Geld machen will, stellen sich der Geschichte entgegen.
So werden die Selbstmorde von »Märtyrer«-Operationen überwunden, sie gehören einer früheren Ära an: Ihr Kampf gegen Rassismus, Armut, Ungleichheit und neue Grenzziehungen hat sich als machtlos erwiesen. Letztlich stärkten sie nur einen weltweiten bewaffneten Sicherheitsstaat, der stets bereit ist, neue Mauern zu errichten und jeden Widerstand gegen seine Herrschaft als Terrorismus zu bezeichnen. Der Anbruch dieses neuen Zeitalters brachte die Annäherung von Körpern mit sich, die nun nicht im Namen irgendeines zukünftigen Lebens, sondern für das Leben im Hier und Jetzt kämpfen. Was kann man schon erwarten? Das nackte Überleben von Millionen Menschen ist schließlich täglich dem Schicksal eines sinnentleerten Scheinmarkts ausgeliefert – einem Spielplatz blutgesättigter Vampire, die sich »Hedgefondsmanager«, »Milliardeninvestor« oder »Vorstandsvorsitzender« nennen.
Die Gleichung, die diese Vampire aufgestellt haben, erscheint uns unhaltbar: Privatisiere die Gewinne, so heißt es, und vergesellschafte die Verluste.
Von Libyen, Syrien, Bahrain, Jemen, Jordanien bis in das besetzte Palästina, ja sogar bis nach Israel hat sich ein revolutionärer Flächenbrand ausgebreitet. Die Funken sind bis nach Portugal, Griechenland und Spanien geflogen, dann zurück nach Griechenland und in die Straßen von London. Nun zünden sie in einer weiteren Hauptstadt des Kapitals, vielleicht DER symbolischen Schaltzentrale der Finanzmafia: in der Wall Street. An all diesen Orten haben wir in verschiedenen Varianten den Ruf »ES REICHT« vernommen.
Man muss es in einer Zahl ausdrücken: »Wir sind die 99 Prozent.« Man muss es in einer Zahl ausdrücken: »Die 1%.« Ihr habt mit allen erdenklichen Mitteln versucht, eine Sprache zu finden und einen Prozess zu formulieren, der der Demokratie eine mögliche Bedeutung verleiht. In einer trügerischen Opposition kämpfen politische Parteien um die Macht, das Schiff sinken oder den Zug vor die Wand fahren zu lassen. Ihr aber fordert, den Zug anzuhalten oder das Schiff ans Ufer zu steuern. Wir müssen unsere Koordinaten ändern: Die Zahlen stimmen nicht, und in den Gleichungen scheint immer das Wichtigste zu fehlen.
Euer Mangel an Forderungen reagiert auf die Vielzahl von Forderungen und Anordnungen, denen unser Imaginäres tagtäglich nachgibt.
Euer Mangel an Forderungen lässt Raum für Diskussionen und Ideen, die sich während der gemeinsam verbrachten Zeit entwickeln können.
Euer Mangel an Forderungen verweigert sich der Tatsache, dass das Schiff nicht von jenen abstrakten Algorithmen und ökonomischen Gesetzen gesteuert wird, die auf wundersame Weise immer nur dem einen Prozent zu nutzen scheinen.
Eure Handzettel, eure Communiqués und Flugblätter sind daher nicht einfach eine Forderung an die Herrschenden. Sie wollen nicht einfach neue Privilegien, Rechte oder Schutzmaßnahmen. Sie sind Leuchtfeuer der Hoffnung, Liebe, Verweigerung und Solidarität – Gedichte für eine Multitude, die sich in einem der Zentren des Empire einen gemeinschaftlichen Raum erschafft und neu bedenkt, wie ein gemeinsamer Horizont aussehen könnte. Die Wälder, unser Wasser, unsere Luft, unsere Erde, unsere Meere sind unsere Gemeingüter. Unsere Arbeit, unsere Ideen, unsere Worte, unsere Beziehungen ebenfalls. Sie können weder einem Staat noch einem privaten Unternehmen gehören, da sie weder von einer Grenze umschlossen, noch von einer einzigen Organisation kontrolliert werden können; sie bilden die Grundlage des Lebens. Doch von uns wird erwartet, toxische Schulden und toxischen Müll als gemeinsames Schicksal akzeptieren.
Joseph Beuys behauptete, dass jeder Mensch ein Künstler sei. Und Robert Filliou betonte: »Kunst ist, was das Leben interessanter macht als Kunst.« In diesen und in vielen anderen Hinsichten begreifen wir euch als Künstler. Doch wir möchten diesen Statements noch eine weitere Behauptung hinzufügen: Kunst kann auch ein kreativer Schub sein, der den Bereich, in dem er zunächst entsteht, überschreitet. Und obwohl für uns feststeht, dass das, was ihr tut und was jene Millionen tun, die von Tunis und Kairo bis nach Athen und Madrid hinter euch und an eurer Seite stehen, Politik ist: Wir verstehen diese Aktionen auch als eine Deterritorialisierung der Politik, die wir in den zurückliegenden Jahrzehnten erlebt haben.
Wir haben von Bemühungen gehört, Künstler im Namen einer »Occupenial« an die Wall Street zu holen. Auch wenn wir alle Anstrengungen unterstützen, auf euer Unternehmen aufmerksam zu machen und es zu legitimieren, glauben wir, diese Gelegenheit nutzen zu müssen, die Künstler und das Künstlerische innerhalb dieser aufstrebenden Bewegung zu erkennen. Die Kunst ist nicht außerhalb dieser Bewegung oder von ihr abgetrennt, sondern ereignet sich an jedem Tag, an dem ihr beharrlich diesen gemeinsamen Raum und diese gemeinsame Zeit gestaltet.
Wir dürfen die Forderungen dieses historischen Moments nicht verpassen: Wir brauchen keine expliziten künstlerischen Bezeichnungen, um dieser Bewegung zusätzliche Legitimität zu verschaffen, wir brauchen die Multitudes, die wie auch immer gearteten Singularitäten, die dunkle Materie, die Hacker, die Tagelöhner, die »Dienstleister«, das Prekariat, das Kognitariat, die Hausverwalter – das heißt: die allgemeine Intelligenz, die in mannigfaltigen virtuellen, materiellen und unsichtbaren Netzwerken entsteht und entstanden ist, um ihr spezifisches Know-how und Know-what in politisches Handeln zu übersetzen.
Wie lässt sich diese gewaltige gemeinschaftliche Intelligenz in politisches Handeln übersetzen? Das ist eine entscheidende Frage dieses noch jungen Jahrhunderts. Die Prozesse, die jetzt rund um den Globus Gestalt annehmen und von denen ihr ein Teil seid, stellen den Versuch einer Antwort dar. Kunst, die politisch werden will, muss – besonders in Momenten des Aufstands – die Fähigkeit, das Bewusstsein und den Anstand haben, wahrnehmbar zum Teil der Bewegung zu werden.
In einem Vortrag vom 22. Februar 1969 beendete Michel Foucault seine Bemerkungen zur »Autor-Funktion« mit der Überlegung, dass die Autor-Funktion in dem Moment verschwindet, in dem sich die Gesellschaft zu verändern beginnt, und schloss mit einem Zitat von Samuel Beckett: »Wen kümmert’s, wer spricht?«
Heute stellt die Anonymität die Tyrannei der Benennung infrage: Diese läuft Gefahr, jede politische Handlung oder Äußerung als das Eigentum oder das spektakuläre Spiel um die Aufmerksamkeit für eine bestimmte Person zu klassifizieren. Und ihr alle, die ihr anonym und kollektiv die Straßen von Tunis, Athen, Madrid, Kairo, London, New York und anderen Städten mit Texten plakatiert und besetzt, habt ein neues Spiel in die Politik eingeführt. Diese Bewegung hat keine Autoren und keine Anführer. Welche neuen Regeln dieses Spiel hat, muss erst noch herausgefunden werden. Aber eines ist sicher: Die alten Tricks, mit denen man versucht hat, molekulare Prozesse Individuen oder Parteien zuzuschreiben oder sie auf diese zu reduzieren, werden darin keinen Platz haben.
Dies ist nicht nur ein Spiel mit dem äußeren Schein, es ist auch ein Spiel mit Konsequenzen. Und die wichtigsten politischen Akteure und Künstler dieses neuen Jahrhunderts erkennen diese Tatsache an. Das Schicksal eines Planeten mit all seinen Lebens- und Kulturformen steht auf dem Spiel.
Wir bleiben inspiriert von eurer Fähigkeit, euch über Kontinente hinweg zu verbreiten und eine beharrliche neue gesellschaftliche, kulturelle und politische Bewegung zu entwickeln. Wenn Politik eine Ästhetik hat, dann seid ihr die Ästhetiker einer neu entstehenden Politik. Und damit seid ihr machtvolle Mitstreiter einer neuen Kraft nicht nur in der Politik, sondern auch in der politischen Kunst dieses neuen Jahrhunderts.
In Solidarität und Singularität und Multiplizität,
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